Relativer Alterseffekt (RAE)
Relativer Alterseffekt (RAE) (relative age effect), auch Geburtsdateneffekt. Phänomen, dass früher Geborene eines Jahrgangs körperlich reifer als die Jüngeren sind und so als talentierter wahrgenommen werden. Das trifft besonders dann zu, wenn eine Leistungsauswahl nach kalendarischem Alter oder Jahrgängen vorgenommen wird (Wettkampfsystem).
Der im Leistungssport tätige Trainer ist stets auf der Suche nach Talenten und Möglichkeiten diese zu fördern. Nachwuchstraining ist in den meisten Sportarten über das kalendarische (chronologische) Alter strukturiert. Für eine Leistungsauswahl ist das kalendarische Alter aber nicht ausreichend. Sowohl Trainingsalter als auch biologisches Alter sind zu beachten. Dabei sind biologisches Alter und relativer Alterseffekt nicht identisch. Dementgegen verweisen aber zahlreiche Studien in vielen Sportarten auf eine Schieflage in der Talentförderung, hervorgerufen durch die Bevorzugung früher Geborener. Relativ Jüngere haben somit geringere Chancen in Auswahlmannschaften, Leistungsgruppen oder Klassen der Sportschulen zu kommen, wobei die Begabung für eine Sportart kaum vom Geburtsdatum abhängig sein dürfte (Lames & Augste, 2009). Ungeachtet dessen geht man zum Beispiel im Fußball davon aus, dass bis zu 15-20% an Talenten aus dem letzten Quartal verloren gehen, während bei Spielern aus dem ersten Quartal etwa 25% gefördert werden, die keine Perspektive haben. Anhand der vielen Publikationen im Fußball wird die Beziehung zwischen RAE und Marktwert des Spielers offensichtlich (u.a. Perez-Gonzalez et al. 2020).
Es gibt aber auch Studien, die das Gegenteil nachweisen, da bei den über 15-Jährigen die relativ jüngeren überrepräsentiert waren. Die Autoren begründen das damit, dass die Jüngeren zur Kompensation der körperlichen Nachteile bessere taktische und technische Fertigkeiten ausbilden müssen (Schorer et al. 2009; Langham-Walsh, E. 2020) und wohl auch lernen, verbissener um ein Ziel zu kämpfen (Underdog-Hypothese). Eine systematische Untersuchung (Babic et al. 2022) zeigt, dass junge Männer (<18 Jahre) am stärksten von RAE betroffen sind. Bei den Frauen gibt es keine signifikante Tendenz. Die Mehrheit der RAE-positiven weiblichen Proben gehört zu den Einzelsportarten, während die Mehrheit der männlichen Proben zu den Sportarten mit absolutem Körpergewicht gehört. Es wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Sportarten und zwischen den Teilnehmern der Olympischen Spiele festgestellt. RAE ist offensichtlicher in jüngeren Altersgruppen und in Sportarten, die eine höhere Schnellkraft und anaerobe Kapazität erfordern, wie Fußball und Kurzstreckensprints (Gioldasis et al. 2021).
Ergebnisse mit dem Nullhypothesen–Signifikanztest (NHST) werden von der Stichprobengröße, dem Geburtsmuster und dem Zusammenspiel beider Faktoren beeinflusst. Diese Wechselwirkung führt dazu, dass in großen Stichproben häufiger ein RAE vermutet wird als in kleinen Stichproben, obwohl die Geburtsmuster in großen Stichproben gleichmäßiger verteilt sind (Keune 2023).
Exkurs: Der RAE-Problematik wurde in den letzten Jahrzehnten in vielen Studien verschiedener Sportarten behandelt. Wie gehen wir im Schwimmsport damit um? In England wurden bei Schwimmern im Alter von 9-16 Jahren signifikante Leistungsunterschiede über 100m Freistil zwischen früh (erste Jahreshälfte) und spät (zweite Jahreshälfte) geborenen nachgewiesen (Neuloh 2009). Beim Jugendmehrkampf des DSV waren 87% der Teilnehmer im ersten Halbjahr geboren, während in Deutschland die Geburten über das Jahr annähernd gleich verteilt sind. So auch bei den Finalläufen zur WeltmeisterschaftWeltmeisterschaft 2009 mit einem Verhältnis 49% (Januar bis Juni) zu 51% (Juli bis August) (Rudolph 2011). Folglich sind die Leistungsvorteile durch die frühere Geburt nur vorübergehend (Neuloh 2009, Cobley et al. 2018). In den Schwimmverbänden Schwedens und Portugals fand man keinen signifikanten Vorteil (Buhre & Tschernij, 2019; Costa et al. 2013). So einleuchtend wie der RAE bei den jüngeren Altersklassen ist, so problematisch erweist sich die Umsetzung dieser Erkenntnisse in die Praxis. Cobley et al. (2019) entfernten durch korrigierende Anpassungsverfahren RAEs effektiv aus der 100-m-Freistil-Schwimmleistung. Im Skiverband Frankreichs wurde ein Koeffizient entwickelt, der auf dem Verhältnis zwischen Geburtsmonat und Leistung basiert, die individuelle Leistung anpasst und den Effekt von RAE aufhebt (De Larochelambert et al. 2022). Mathematisch kann man viel machen, aber auch einen kleinen „Schwimmerling“ tief kränken, wenn wir ihn wegen des frühen Geburtsmonats zurückstufen. Nun könnte man die Wettkampfprogramme anpassen, indem man die Altersgruppen noch einmal unterteilt. Bei der Vielzahl der Disziplinen im Schwimmen und der Diskussion um die zusätzliche Berücksichtigung der „Gender queer“ tendiert das zu „Jedem seine Medaille“. Interessant sind zahlreiche Hinweise auf Weltmeister und Olympiasieger, die als „Unterdogs“ ihre Laufbahn begonnen hatten. Wesentlicher erscheint die Beachtung des RAE bei der Talentauswahl. Hier aber weniger durch eine Mathematifizierung des Talents, sondern durch ein abgewogenes Urteil des erfahrenen Trainers bei Beachtung aller Entwicklungsbedingungen plus objektiv erhobener Leistungsdaten (u.a. Niewerth, 2023). Zudem ist bei immer noch unsicheren Talentprognosen im Kindesalter jeder Verein gut beraten, wenn viele Kinder schwimmen und später selektiert wird.
„Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ Kapitel 13, Vers 12 des Matthäusevangeliums (Gleichnis von den anvertrauten Talenten)
- Video: https://www.youtube.com/watch?v=90cHipKaEY4 (engl.) -Zugriff 27.11.22
- Mundelsee, L. (2020). Das relative Alter, der Matthäus-Effekt & Co.: Stolpersteine und Verbesserungspotential in der Talentauswahl im Schwimmen, DSTV-Reihe, Bd. 45, 97-118
- Niewerth, M. (2023). Der relative Alterseffekt im deutschen Nachwuchsschwimmsport. DSTV-Reihe, Bd.48, 71-88